Der Predigttext von Pastorin Martina Wüstefeld am Sonntag, 22. März 2020
Herbert
Es hatte lange gedauert, bis er in seine Heimatstadt zurückgekehrt war. Und die Rückkehr war so ganz anders gewesen als der Aufbruch. Damals jubelten ihm die Menschen zu, sie nannten ihn Held und Retter. Auf seinen Schultern und auf denen seiner Kameraden lag das Schicksal seines Landes – das hatten ihm die Rattenfänger an den Mikrofonen schon sehr bald klar gemacht. Und so meldete er sich als Soldat – mit 18, kurz vor seinem Abitur. „Das kann ich immer noch machen – das läuft nicht weg! Aber jetzt – jetzt ist die Zeit gekommen, meinem Land zu dienen.“ Ihn schaudert, wenn er an die Worte denkt, die ihm damals so leicht von den Lippen kamen. Auswendig gelernte Floskeln, denen abgehört, die mit der Rattenfängermelodie ihrer Worte Millionen in ihren Bann schlugen. Worte, die Hirne aus- und ein ganzes Volk gleichschalteten.
Und jetzt war er wieder da. In Hamburg, seiner Vaterstadt, der Stadt, an der sein Herz hing. Aus der Gefangenschaft zurückgekehrt – ins Nichts. Er fühlte sich fremd, hatte jegliche Orientierung verloren. Wo bei seinem Aufbruch noch Häuser standen, lagen jetzt Trümmer, ragten Fassaden wie potemkinsche Dörfer in den hellen Himmel hinauf – „vorne hui und hinten pfui“, wie seine Tante Mina immer über die fein herausgeputzten jungen Damen am Jungfernstieg gesagt hatte. Übermannshohe Trümmerberge lagen herum. Menschen durchsuchten sie nach Nützlichem. Kinder spielten mit den zerstörten Schätzen, die sie zwischen Mörtel und Ziegeln fanden. Ratten wieselten zwischen den Lücken der Trümmer hin und her – wie immer waren sie diejenigen, die auch im größten Chaos, in der schlimmsten Zerstörung Weg und Nahrung fanden. Herbert schüttelte sich. Jetzt war er am Hafenbecken angelangt. Hier hatten die Schuten festgemacht, die die Ölmühle belieferten. Oft genug hatte er hier mit Fred geangelt, damals, in den friedlichen Tagen, die nun für immer vorüber schienen. Den Weg nach Hause fand er von hier aus im Schlaf, da war er sich sicher. Und so lief er los.
Als er in seiner Straße angekommen war, setzte sein Herz für einen Schlag aus. Das Haus, in dem er seine Kindheit verbracht hatte, es stand noch. Zwar hatte es erheblichen Schaden erlitten, keines der Fenster hatte mehr Scheiben, von den Balkonen ragten nur noch Eisenstreben in den Himmel wie klagend erhobene dürre Arme. Aber es war eben nicht nur eine Fassade, die an früher erinnerte – es war ein Haus. Mit Wohnungen. Und in einer von ihnen hatte Herbert gelebt, in einer von ihnen lebte nun hoffentlich noch seine Familie. Er öffnete die Haustür und trat in den Flur. Es roch nach feuchtem Mörtel, nach Staub und Schlimmerem. Aber die Treppe stand noch da, wo sie schon immer gestanden hatte. Mit schweren Schritten stieg er bis zum ersten Treppenabsatz hinauf. Eine Tür öffnete sich einen Spalt weit. „Wer sind Sie? Zu wem wollen Sie?“, fragte eine misstrauische Stimme. „Ich bin’s. Herbert.“ Mehr brachte er nicht über die Lippen. „Ah, der verlorene Sohn kehrt zurück! Lange genug hat’s ja gedauert – hast wohl abgewartet, bis wir hier alles wieder schier haben. Typisch! Aus dem Staub hast du dich gemacht – und jetzt, wo andere schon seit Monaten schuften, jetzt kehrst du wieder heim!“ Herbert fühlte sich, als hätte er einen Faustschlag in den Magen bekommen. Benommen stieg er die Treppe weiter hinauf, bis in den dritten Stock, bis zur Wohnung, in der er aufgewachsen war. Eine Klingel gab es nicht mehr und er konnte sehen, dass auch hier Fensterscheiben fehlten. Er klopfte. Nichts. Er klopfte noch einmal. Da hörte er leise Schritte hinter der Tür. Eine Stimme fragte: „Ja? Wer ist da?“ – die Stimme seiner Mutter. Plötzlich hatte er einen Knoten in der Kehle, konnte nicht antworten. Nur krächzen. Aber dieser Laut genügte – die Tür flog auf, seine Mutter stand vor ihm, schaute ungläubig auf ihn. „Herbert!“, war das Einzige, das sie sagen konnte. Und ehe er noch antworten konnte, hatte sie ihn schon in die Arme genommen, hatte ihn an ihr Herz gedrückt und küsste ihn.
Jesaja – und wir
Liebe Gemeinde, so lange es Kriege gibt und Besatzung, so lange Menschen in die Länder ihrer Nachbarn einfallen und dort alles zerstören, was ihnen in die Hände fällt – so lange gibt es Erfahrungen wie die, die Herbert aus meiner kleinen Geschichte machen musste. Erfahrungen des Fremdseins in einer Umwelt, die doch bekannt sein sollte, weil es die Heimat ist. Erfahrungen des Angefeindetwerdens von denen, die da bleiben mussten – im Bombenhagel, unter den Besatzern, unter einer Fremdherrschaft. Auch der Prophet Jesaja kannte das – er hatte den Israeliten vorausgesagt, dass ihr sorgloses Leben schon bald der Vergangenheit angehören würde. Hatte gemahnt, sich nicht von ihrem Gott abzuwenden. Hatte davor gewarnt, sich anderen Göttern zuzuwenden. All das hatte nichts genützt. Die Judäer waren unter babylonische Herrschaft geraten, ihre Elite wurde deportiert – zurück blieben die, die das Land am Laufen halten mussten, damit die neuen Herrscher Profit erwirtschaften konnten. Für lange, sehr lange Zeit war das so. Über Generationen. Ich kann mir vorstellen, dass die Menschen ihre Hoffnung verloren hatten. Und in diese Hoffnungslosigkeit hinein spricht der Prophet folgende Worte:
10 Freuet euch mit Jerusalem und seid fröhlich über die Stadt, alle, die ihr sie lieb habt! Freuet euch mit ihr, alle, die ihr über sie traurig gewesen seid. 11 Denn nun dürft ihr saugen und euch satt trinken an den Brüsten ihres Trostes; denn nun dürft ihr reichlich trinken und euch erfreuen an ihrer vollen Mutterbrust. 12 Denn so spricht der HERR: Siehe, ich breite aus bei ihr den Frieden wie einen Strom und den Reichtum der Völker wie einen überströmenden Bach. Da werdet ihr saugen, auf dem Arm wird man euch tragen und auf den Knien euch liebkosen. 13 Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet; ja, ihr sollt an Jerusalem getröstet werden. 14 Ihr werdet's sehen und euer Herz wird sich freuen, und euer Gebein soll grünen wie Gras. Dann wird man erkennen die Hand des HERRN an seinen Knechten und den Zorn an seinen Feinden.
Das sind Worte, die sich wie Balsam auf die Wunden legen. Worte, die Hoffnung machen. Hoffnung darauf, dass doch noch alles gut wird. Dass nicht alles zerstört ist. Dass es immer noch einen Ort gibt, an den man sich zurückziehen kann, wenn das Leben allzu wild und zerstörerisch wird. Worte sind es, die die Zeit der Trauer beenden: Damals war es so, dass man fastete, wenn man trauerte. Das Bild, das der Prophet findet, das spricht von Überfluss, buchstäblich: Wie eine stillende Mutter wartet die Stadt Jerusalem auf die Heimkehrer, die endlich wieder Nahrung in ihr finden und Ruhe. Diese Worte atmen Lebendigkeit aus jeder Silbe, überbordendes Leben. Sie sind Verheißung dessen, was nun kommen wird: Gott wird Frieden und Reichtum der Völker fließen lassen, nicht nur in kleinen Rinnsalen, sondern in Bächen und breiten Strömen.
Schöne Worte. Damals. Aber heute?
Heute ist Jerusalem der Zankapfel, um den Judentum, Christentum und Islam kämpfen. Allzu oft haben Menschen in ihren Mauern Anlass zur Trauer – weil ihre Liebsten in Anschlägen umkamen. In Bombenangriffen, die es auch heute immer noch gibt. Nein – es gibt wenig Anlass zu ausgelassener Freude und schon gar nicht könnten wir unterschreiben, dass in den Straßen Jerusalems Frieden und Gerechtigkeit strömen wie Bäche oder gar Flüsse. Zu sehr haben Menschen diese einzigartige Stadt auf dem Berg mit ihren Ansprüchen, mit ihren Sehnsüchten und ihrem Besitzdenken belegt. Zu leise sind die Stimmen derjenigen, die ein Zusammenleben dennoch hinkriegen, die miteinander leben – Araber und Jude, Christ und Muslim. Menschen, denen die Religion des anderen weniger wichtig ist als der Gedanke: Das ist mein Nachbar. Er ist hier groß geworden, genau wie ich. Auch er fegt den Unrat von der Gasse, auch er versucht, sich und seine Familie durchs Leben zu bringen. Auch er vielleicht ein Schlitzohr, wie ich es eben auch bin. Auch er einer, der liebt. Diese Stadt. Ihre Menschen. Gott.
Doch die Voraussagen des Propheten gelten nicht nur für Jerusalem, für Judäa und sie bleiben nicht in der Vergangenheit verhaftet. Sie gelten auch heute. Gerade heute - in dieser merkwürdigen Zeit, in der wir zu Hause bleiben, uns nicht mehr treffen sollen. In dieser Zeit, in der Kirchen geschlossen bleiben und Beerdigungen unter freiem Himmel stattfinden. Das macht vielen Menschen Angst. So etwas gab es noch nie - jedenfalls nicht zu unseren Lebzeiten. Epidemien, die schienen doch wie Gespenster aus der Vergangenheit zu sein. Mit ordentlich Abstand herrlich gruselig anzusehen. Futter für Historienschinken. Und jetzt das - in unserer modernen Zeit.
"Fürchte dich nicht!", das steht auch im Buch des Propheten Jesaja. Gott sagt es zu denen, die an ihn glauben, die sich nicht von ihm wegdrehen, die ihn nicht zugunsten von anderen, scheinbar mächtigeren Göttern aufgeben. "Fürchte dich nicht!" Und "Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus. Denn die Furcht rechnet mit Strafe; wer sich aber fürchtet, der ist nicht vollkommen in der Liebe. ", so können wir im 1. Johannesbrief lesen. Gerade in dieser Zeit, in der wir mit Nachrichten über das Coronavirus den Tag beginnen und mit ihnen auch den Tag beenden, gerade jetzt sollten wir uns auf das besinnen, was unser Auftrag ist: Einander zu lieben, auf einander Acht zu geben. Das bedeutet auch, dass Kirchen geschlossen bleiben, weil sich das Virus in Menschenansammlungen besser verbreiten kann. Aber nur, weil Kirchen dicht sind, heißt das ja nicht, dass das kirchliche Leben auch versickert. Andere Zeiten erfordern andere Lösungen. Gemeinden hängen Zettel mit Gottesdienstabläufen auf, andere präsentieren sich per Livestream im Internet. Feste Gebetszeiten werden eingerichtet, in denen die Menschen zwar in ihrem Zuhause, aber doch mit anderen zu dieser Zeit verbunden beten. "Not lehrt Beten" - ja, aber sie macht auch erfinderisch. Niemand schneidet uns von den Strömen und Bächen der Gerechtigkeit und des Friedens ab, die Gott fließen lässt, wenn wir uns umeinander kümmern. Mit Nachbarschaftshilfen, im Gebet und in der Fürsorge. Vielleicht fühlen sich einige von uns jetzt, als seien sie im Exil. Aber dort sind wir nicht allein. Selbst, wenn niemand mehr zu Besuch kommt, selbst, wenn wir nicht mehr vor die Tür gehen dürften - selbst dann haben wir noch Telefone, können uns schreiben und uns so Mut machen. Selbst, wenn auch das nicht mehr ginge - selbst dann haben wir Gott, der uns wie eine Mutter tröstet und uns Mut macht. Das galt damals dem Volk Israel, das gilt heute uns.
Amen.
Pastorin Martina Wüstefeld